Zeitzeugenbericht

In Zeiten des Homeschoolings werden immer wieder kreative Ideen geboren. So fand am 25.02.2021 eine ganz besondere Videokonferenz mit mit der Klasse 10d im Rahmen des Gesellschaftslehreunterrichts statt. Der Zeitzeuge Hartmut Richter war aus Berlin zugeschaltet und erzählte den Schülerinnen und Schüler von seinem Leben.

Herr Richter war 1963 aus der DDR geflüchtet und half seit seiner Flucht bis zum Mauerfall insgesamt 33 Menschen bei der Überquerung der innerdeutschen Grenze. Seine letzte Fluchthilfe endete mit einem fünfjährigen Gefängnisaufenthalt für ihn. Das folgende Zeitzeugeninterview wurde von Veronika Gaus verfasst.

Veronika: Also, Herr Richter, als Erstes würde ich gerne wissen, wie Ihr Alltag und Ihr Leben in der DDR ausgesehen haben. Sie waren ja auch noch ein Kind zu dieser Zeit. Erzählen Sie mal …

Herr Richter: Uns wurde früher in der Schule gesagt, dass wir viel besser in unserer Entwicklung wären als andere Kinder. Sie haben gesagt, dass wir als Gruppenvorsitzende viel mehr Vorteile hätten als die anderen. Sie müssen wissen, dass wir in verschiedene Abstände eingeteilt worden sind, wo sie uns so etwas verdeutlichen wollten. Uns Jungen wurden ohne unser Einverständnis die Haare abgeschnitten. Außerdem bekannten wir uns schon im jungen Alter zum deutschen Arbeiter- und Bauernstaat. Die höheren Positionen haben uns immer eingeredet, dass wir was Besonderes seien und mehr Möglichkeiten als andere hätten bzw. sie haben immer alles schön geredet, auch wenn es dennoch ganz klar nicht so war.

Veronika: Wie sind Sie mit der Situation umgegangen? Wollten Sie flüchten oder wie ist das alles für Sie abgelaufen?

Herr Richter: Ich versuchte zu flüchten.

Veronika: Wie ist es abgelaufen?

Herr Richter: Mir wurde gesagt, dass man sehr einfach fliehen könnte, indem man ein paar Drähte an der tschechisch-österreichischen Grenze entfernt und in den Westen flüchtet. Anscheinend hätten es auch Leute vor mir geschafft. Die Chance wollte ich mir nicht entgehen lassen und plante daraufhin meine Flucht. Ich ging an die Grenze und versuchte zu fliehen, woraufhin ich aber gefasst und für drei Monate inhaftiert wurde.

Veronika: Wie war die Zeit in der Haft für Sie und wie kamen Sie raus?

Herr Richter: Ich schrieb Briefe, in denen stand, dass ich es bereuen würde, da ich wusste, sie würden die Briefe lesen, die ich verschicken würde. Daraufhin wurde ich auf Bewährung entlassen. Außerdem bekannte ich mich zum Kommunismus.

Veronika: Gab es danach einen erneuten Fluchtversuch?

Herr Richter: In der Tat.

Veronika: Wie ist dieser abgelaufen?

Herr Richter: Es gab mehrere Kanäle in Berlin, wo das Wasser sozusagen endete. Alle hatten eine Beleuchtung, jedoch habe ich mich für einen entschieden, wo das Licht nicht so stark war. Ich wollte unter der Grenze auf die andere Seite tauchen. Dann eines Tages ging ich nachts an das besagte Wasser. Ich habe mir mit Absicht ein dunkles Oberteil angezogen, damit man mich durch das Wasser nicht so gut erkennen kann. Ich konnte nicht am Rand entlang schwimmen, da dort immer wieder Menschen und Soldaten vorbei gelaufen sind. Daher musste ich Abstand vom Ufer halten. Es war eine sehr stressige Situation und bei jeder kleinsten Bewegung oberhalb der Wasseroberfläche war ich wie vereist und rührte mich nicht. Ich hatte sehr Angst, erwischt zu werden. Ich war ewig im Wasser und es war sehr kalt. Als ich endlich über die Grenze geschwommen war, musste ich erneut sehr lange warten, bis die Wachen gingen und ich aus dem Wasser steigen konnte. Mithilfe der ganzen Wasserpflanzen hielt ich mich versteckt. Ich war außer Atem und bin mit meiner letzten Kraft gerade noch so über einen Stacheldrahtzaun geklettert.

Veronika: Was passierte danach?

Herr Richter: Ich ging zu einer alten Dame, die mir half, da sie sah, wie dringend ich Hilfe nötig hatte und wie kaputt ich war. Kurze Zeit später wurde ich ohnmächtig und wurde von einem Krankenwagen in das Krankenhaus gebracht.

Veronika: Das ist wirklich beeindruckend, lieber Herr Richter. Ich könnte Sie noch stundenlang interviewen, da es so spannend ist, jedoch muss ich das Interview hiermit beenden. Vielen Dank!

Herr Richter: Ach, das ist doch kein Problem für mich! Auf Wiedersehen!

Reflexion von Veronika Gaus:
Ich finde es sehr beeindruckend von Herrn Richter, dass er nach seiner Niederlage einen weiteren Versuch gewagt hat und es schaffen konnte zu fliehen. Dies zeigt, dass er seinen Willen sehr gut durchsetzen kann und dass man nach einem gescheiterten Versuch nicht direkt aufgeben soll. Außerdem finde ich es sehr stark von ihm, dass er die Flucht komplett mit seiner letzten Kraft und voller Angst durchgezogen hat. Ich bin sehr dankbar, dass er sich die Zeit genommen hat, uns alles sehr ausführlich zu erklären und dass er auf unsere Fragen eingegangen ist.